Reflexionen

Kunst ist nur schwer zu beschreiben, Kunst soll man sehen und über die Sinne wahrnehmen, sie restlos interpretieren und erklären kann man nicht. Was man vielleicht kann, ist Werkzeug bereitzustellen, mit denen sich jeder selbst ein Bild von der Kunst formen muß.

Wenn wir uns nun der künstlerischen Arbeit von Katrin Sliwinski zuwenden, so spürt auch der unvoreingenommene Betrachter, daß ihre Arbeiten Ausdruck eines sehr persönlichen Lebensgefühls sind. Sie verbindet mit fast lapidarer Unbekümmertheit Materialien und Gegenstände, zumeist Fundstücke. Da werden so triviale Dinge wie leere Kisten, Holzreste, Pappmaché, Klingeln, Spielzeug mit Bändern und Draht verbunden, da findet sich auf einmal ein aufgeklebter Gegenstand wie bedrucktes Papier. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Ihr künstlerisches Vorgehen erinnert dabei eher an das Vorgehen eines Bastlers, als das eines Ingenieurs, es ist nicht geprägt von zielgerichteter Planung und Ausführung, sondern vielmehr durch Unvorhergesehenes. So hat der Bastler zwar eine ungefähre Zielvorstellung, dazu eine Anzahl von Mitteln und Materialien, das Ziel liegt aber nicht als Plan vor, sondern Plan und Realisierung beeinflussen sich gegenseitig und verändern einander im Fortgang der Arbeit. Katrin Sliwinski nennt ihr Vorgehen selbst: "als tägliche Auseinandersetzung mit sich immer wieder neu formendem Entdecken von Möglichkeiten".

Wer hier als Betrachter in Kategorien wie Komposition und Harmonie denkt, wird wohl seine Mühe haben, diesen Arbeiten andere Begriffe als spontan und verspielt zuzuordnen. Zweifellos treffen diese Beispiele alle zu, sie treffen jedoch nur die Oberfläche.

Lassen wir uns nämlich nach der ersten Konfrontation und vielleicht erfolgten Konfusion auf eine Arbeit ein ‑man sollte sich mit Muße darauf einlassen ‑ entdecken wir zahlreiche Beziehungen zwischen den einzelnen Gegenständen, den einzelnen Zeichen, den Zahlen und Buchstaben. Diese Beziehungen werden immer vielfältiger, je länger wir uns mit ihnen beschäftigen, Verbindungen fallen auf. Zunächst erinnern sie vielleicht auch an ein Rätsel, wir glauben Vertrautes zu sehen, aber zugleich entzieht es sich uns. Die Arbeiten sind vielleicht, so formulierte es jüngst ein Kritiker, zwischen Allem. Wir erkennen etwas, können es aber nicht genau beim Namen nennen. Sicher ist nur Eines, Katrin Sliwinski zielt in ihrer künstlerischen Arbeit weniger auf formale Strukturen als auf die assoziative Qualität der von ihr neu kombinierten Fundstücke. Dabei sind die Kombinationen meist nicht zufällig, sondern die verwendeten Elemente verweisen aufeinander, der Zusammenhang liegt auf einer Ebene, wo der Bereich möglicher Assoziationen von ihr nur grob vorstrukturiert wird. Was sich zwischen dem Objekt und dem Betrachter ereignen soll, ist aber nicht mit dem Lesen eines fortlaufenden Textes, zum Beispiel, vergleichbar und daher auch nicht durch eine bloße Beschreibung der Arbeiten wiederzugeben. Was wir als Betrachter leisten müssen, ist kein kognitives Sehen. Das Eigentümliche ist der ständige Wechsel von verschiedenen Lesarten und Erkennungsweisen. Es wirken dabei sogar Vorstellungen und Begriffe mit, die in den künstlerischen Arbeiten gar nicht unmittelbar zu sehen sind. So leben wir den ganzen Tag in Gegensätzen, teilen alles ein in Früher und Später, Hoffnung und Verzweiflung, männlich und weiblich.
Für Katrin Sliwinski ist das Entscheidende, den Raum zwischen den Bereichen zu betreten, der sich gar nicht statisch festhalten läßt. Sie versucht Gegensätze im Positiven zu vereinigen, zum Beispiel dort, wo sich männliche und weibliche Anteile des Menschen vereinigen. Sie tut dies in zahlreichen Arbeiten. Nehmen wir die Hermaphroditen, sogenannte Phantasiewesen, die zugleich männliche und weibliche Anteile besitzen. Die gedanklichen Wurzeln lassen sich dabei aus einer ‑ sagen wir ‑ chemischen Mixtur von Gelesenem, Gedachtem und durch die Begegnung mit anderen Menschen und deren Hintergrund zusammensetzen, wobei alte und archaische Mythen und die chinesische Ganzheitslehre, der Taoismus, eine besondere Bedeutung haben. So sind die Zahlen 5 und 4 einem schamanischen Ritual entliehen, die Zahl 5 für das Leben und Liebe, die Zahl 4 für den Tod oder das Leid. Im IGing ist die Zahl 5 immer die Wandlungszahl in der Mitte, die Verwandlung bewirkt, das Rad ist das Symbol für den endlosen Kreislauf, das querstehende Rad wird dann folgerichtig zum Bremsklotz.
So suggeriert Katrin Sliwinski in ihren zahlreichen Objekten fast immer auch eine modellhafte Betriebsfähigkeit. Beinahe alle ihre plastischen Arbeiten haben ein oder mehrere sich bewegende Teile, entweder hängen sie an Kurbeln oder sie drehen sich um sich selbst. In der Art und Weise des konstruierten Aufbaus, durch die Verwendung von Rädern als tragende Idee, können wir als Betrachter ein mögliches mechanisches Funktionieren entdecken. Die Räder drehen sich für Fortbewegung und Freiheit. "Das einzig Konstante ist die Bewegung" so die Künstlerin dazu selbst. Wir erkennen Dreiecke, die zugleich für das geistige Leben der Menschen und zum Anderen für das körperliche Spiegelbild auf der Erde stehen soll. Der Mensch darf nach Katrin Sliwinski nicht nur in den Spähren des Geistigen schweben und das physische Leben ignorieren oder umgekehrt, der Weg liegt zwischen Beidern, die goldene Mitte darin, extreme Verhaltensweisen zu vermeiden, um einen Zustand des Gleichgewichts zu erreichen. Hier begegnen wir wieder ihrem Ansatz, Gegensätze im Positiven zu vereinigen. Sie schafft in Ihren Arbeiten trotz der vielschichtigen Zeichen und Symbole gewisse konkrete Rahmenbedingungen, sie beeinflussen und lenken, trotz ihrer für uns zunächst Uneindeutigkeit, unsere Wahrnehmung und Erkenntnisweisen. Sind uns als Betrachter diese Zeichen und Symbole erst einmal bekannt, nimmt unsere Fähigkeit, einmal Gesehenes und Erkanntes in Verbindung zu bringen, zu. Symbole sind vieldeutig und vielschichtig, sie müssen von uns erst entschlüsselt werden. Und Katrin Sliwinski müßte eine schlechte Künstlerin sein, wenn es damit getan wäre, allein von einer Aussage zu sprechen. Sie will uns als Betrachter gewissermaßen emanzipieren, indem sie alle künstlerischen Elemente nachvollziehbar in Assoziationsketten einbindet und uns aktiviert, selbst daran zu arbeiten, um zu eigenen Ergebnissen zu kommen, die weit über das Dargestellte hinausgehen. Ihr eigentliches Anliegen ist die Sensibilisierung unserer Wahrnehmung, also ein eher behutsames Aufdecken unserer vielfältigen Möglichkeiten, wahrzunehmen und zu begreifen. Was ihren Arbeiten auf den ersten Blick insgesamt ihre Faszination verleiht, ist die Respektlosigkeit vor der gestalterischen Konzeption sowie der fast unerschöpflich wirkende Ideenreichtum. Sie will uns Anregungen geben, den Raum zwischen den scheinbaren Gegensätzen zu betreten.

Dietmar Lehmann
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